Chengyang, 22.12.2007

            

Kurz vor Weihnachten sitze ich mit meiner netten chinesischen Begleitung Juan in meinem Western-Food-Restaurant vom damaligen letzten Tag im Jahr des Hundes nach dem Chinesischen Kalender. In einem naheliegenden Gasthaus treffe ich erfreut denselben Gastgeber wieder, der mir damals zu den Hochzeitsfeierlichkeiten in diesem schoenen 8-Doerfer-Dorf Chengyang zur Seite stand. Es machte ihm damals viel Freude, mir die ueber das Neujahrsfest andauernden Feierlichkeiten zu erklaeren und zu zeigen. Zum Neujahrfest wird ueberall im Gebiet der Dong-Nationalitaet geheiratet...und eigentlich nur zu dieser Zeit, da sie viel Glueck-versprechend ist. Somit verfolgt man die Feierlichkeiten mit seinen besonderen Zeremonien von vielleicht 40 Hochzeitspaaren allein nur in diesem mit 300 Familien zaehlenden Dorf Chengyang gleichzeitig. Ueberall begegnen sie einem auf den Strassen in festlicher Kleidung. Den ganzen Tag ueber sieht man die huebschen jungen Damen zudem mit ihrem kunstvollen Silberschmuck  das erste Mal die beiden schweren Wassereimer ueber der Schulter tragend auf dem Weg zum Haus des Braeutigams, begleitet von den Familienmitgliedern.

Mit Chengyang beginnt in der suedwestchinesischen Provinz Guangxi das Gebiet der Dong-Minderheiten, ein Volk mit ca. 3 Millionen Menschen. Es ist der erste Kontakt auf meinem Weg bis tief in die nordwestlich angrenzende Provinz Guizhou mit ihrer beeindruckenden Architektur und den Traditionen der Dong-Voelker. Vorrangig betreiben die Dong-Menschen Landwirtschaft, ueberwiegend die Reiskultur. Ihre meistens zweistoeckigen Haueser, die gaenzlich aus Holz errichtet wurden, befinden sich ueberwiegend an Berghaengen und in der Naehe von Fluessen. Zur Bewaesserung Ihrer bestellten Felder bedient man sich noch heutzutage der uralten Technik von Wasserraedern. Dazu werden die Flusslaeufe ein wenig korrigiert, indem man kleine Wehre errichtet, um das mit nun zunehmender Stroemungsgeschwindigkeit umgelenkte Flussbett und schmalerem Flussverlauf die Wasserraeder anzutreiben. Hier an der schmalen Stelle am Ufer ist die Stroemungsgeschwindigkeit demnach am Groessten. Das ansonsten schwach fliessende Gewaesser treibt wie ein kleiner reissender Strom die Raeder an, die nun ausreichend das Wasser in die oberhalb der Wasserraeder befindliche Pipeline befoerdern. Somit gelangt es zu den Reisfeldern, die selbst in den Senken terrassenfoermig angelegt  wurden, um ueberall einen gleichmaessigen Wasserstand zu garantieren.

Im Zentrum der Dong-Doerfer findet man neben zahlreichen Wind- & Regenbruecken die immer schon von Weitem klar erkennbaren Trommeltuerme. Einst zur Alarmierung der Dorfbevoelkerung mittels stetiger Trommelschlaege zu Kriegszeiten gedacht, stellen diese schoenen pagodenaehnlichen Gebaeude heute kulturelle Treffpunkte dar. Je nachdem, wieviele Familien im Dorf zusammenleben, hat jede ihr  eigenes Wahrzeichen gehabt, ihren eigenen Trommelturm. So kann man in dieser Region durchaus auf 3, 4, oder 5 Trommeltuerme in einem Dorf vorfinden. Handwerklich sind die Dong-Voelker sehr begabt. Besonders gern gesehen werden ihre Stickereien, Flechtwaren, Malereien, Schnitzereien und auch ihre Silberarbeiten. Lange Zeit hatten die Dong keine eigen Schriftsprache. Jede Familie uebertrug ihre Weisheit den Juengeren in Form von sehr gehaltvollen Gesangstexten.

 

„Der Reis ernaehert den Koerper, Lieder ernaehren das Herz“.

 

Am bekanntesten ist der "Große Gesang", bei dem es mehrere Stimmlagen, aber keinen Dirigenten und keine Musikbegleitung gibt. Die Sänger werden mit größter Sorgfalt ausgewählt und von klein auf an ausgebildet. Die Dong-Nationalität hat eine eigene Oper entwickelt, die selbstverstaendlich Dong-Oper heißt und aus der volkstümlichen Unterhaltung stammt, die reich an Scherzgedichten und Bänkelliedern ist.

Erst seit den 50er Jahren nach der Gruendung der Chinesischen Volksrepublik durch Mao Zedong wurde eine Dong-Schrift geschaffen. Heute benutzen die Dong ueberwiegend die Schrift der Han.

Es ist dreiviertel vier nachmittags und haben uns bei diesigem Wetter mit leichten Nieselregeneinlagen  das Dorf ein wenig naeher angeschaut. Wir sind gerade zurueck von einem kurzen Abstecher nach Jichang, einem im nordwestlich vom Zentrum  gelegen Ortsteil Chengyangs. Es ist ein etwas in den umliegenden Bergen hineingewachsenes Dorf. Hier leben die Menschen sehr einfach. Neubauten wie im Zentrum gibt es  nicht. Auffaellig sind die flaechenmaessig sehr grossen Holzhaeuser. Sie stehen sehr dicht beieinander und bieten mit ihren ueberhaengenden Daechern den Dorfbebewohnern Schutz bei jedem Wetter. Das Alter des Dorfes kann gut und gerne auf zeitliche Auslaeufer der Ming- Anfang der Qing-Dynastie geschaetzt werden.

Die typischen Dong-Merkmale finden sich hier ebenfalls mit dem Trommelturm, einer alten Theaterbuehne und dem davor befindlichen Dorfplatz. Von Maan, dem zentralen Dorfteil von Chengyang in der Naehe der Grossen Wind- und Regenbruecke bis nach Jichang sind es 10 Minuten mit dem Kleinbus bei vielleicht 30,- Yuan fuer Hin- & Rueckfahrt.

Vor unserem Besuch in Jichang machten wir einen Abstecher nach Pingpu. Der im Nordosten von Chengyang liegende Ortsteil erscheint mir etwas leicht verbastelt, gemischt mit einigen wenigen Neubauten. Dem sich hier bietendem Anblick nach ist es nicht auf Touristen eingestellt. Diese einfache Lebensweise werden hier noch nicht viele Gaeste zu Gesicht bekommen haben. Im modernen Tourismus wird sich der Reisende selten laenger als einen Tag  in Chengyang aufhalten...wenn ueberhaupt.
Ich moechte nicht sagen, dass hier arme Menschen leben, denn auch sie sind reich, mit dem was sie lebensfroh macht. Sie sind einfachste Lebensweise ueber viele Jahrhunderte hinweg gewoehnt. Dinge, die wir fuer unzumutbar halten, sind ihnen vertraut. Sie haben vielleicht mehr Angst vor dem zu schnellen Modernwerden, dem Verlust gewisser traditioneller Lebensformen. Die ethnischen Minderheiten sind in dieser Region erst seit Mao’s Ausruf der Chinesischen Volksrepublik dabei, ihre Traditionen ueberhaupt wieder pflegen zu koennen. Zuvor hatten sie teilweise noch mit altertuemlichen und feudalen Lebensverhaeltnissen zu kaempfen, waren in buergerkriegsaehnliche Konflikte verwickelt, die eine Entfaltung ihrer sehr schoenen und anspruchsvollen Kultur behinderte. Ihre Pflege ist besonders jetzt zu einem bedeutenden Inhalt ihrer Lebensform geworden.

Interessant in Pingpu war hier das Treffen vieler aelterer Menschen in einem kleinen Kulturhaus, das eigentlich kein Kulturhaus ist. In diesem Haus mit Platz fuer vielleicht 30 bis 40 Menschen, direkt am Dorfplatz gelegen, sassen sie am Feuer und lauschten gespannt den Worten eines Geschichtenerzaehlers. Immer wieder  wurde zwischendurch geschmunzelt ueber die spannende Geschichte, in die der Erzaehler lustige Momente einbaute. Diese Menschen zaehlen zu den aeltesten Dorfbewohnern, die in einer Zeit des Geschichtenerzaehlens grossgeworden sind. Fuer sie ist das ihre Kultur, die sie nicht missen moechten, die ihnen auch die moderne Zeit in dieser ihnen vertrauten Art nicht bieten kann. Selbst der zum Standard eines jeden Haushalt zaehlende Fernseher kann dieses den Alten nicht ersetzen.

Bei unserem Besuch von Dazhai, nahe Maan gelegen, muss ich korrigierenderweise feststellen, dass die 1000 Jahre dem Dorf doch nicht so richtig anzusehen sind. Nicht, dass die vielen neuen Mauerwaende, die an den Haeuser-Stirnseiten hochgezogen worden sind, mich irritiert haetten. Vielmehr war die urspruengliche Bausubstanz wirklich bei weitem noch nicht so alt. Vielleicht war das Urdorf 1000 Jahre alt, als sich die beiden Familien Cheng und Yang nach der Erzaehlung des alten Hotelvaters hier niedergelassen haben. Irgendwo sind sicherlich die Urreste von Cheng und Yang versteckt. Das Dorf ist aber nicht nur allein wegen dem angeblichen Alter interessant. Seine Anordnung der langen Haeuserreihen, die im rechten Winkel zueinander stehen, fallen hier deutlich aus dem Rahmen der sonst ueblichen Haeuser-Anordnung. Hier stehen sie in einer Hoehe Wand an Wand, aussehend wie zweistoeckige Internatsgebaeude.

Das Wetter war heute nicht so, als dass sich dieser 30-minuetige Aufstieg am Dorfeingang zum hochgelegenen Aussichtspunkt in der Flussbiegung gegenueber dem Dorfteil Maan gelohnt haette. Bei klarer Sicht gibt dieser Besuch schon einen interessanten und schoenen Ueberblick ueber die naheliegenden Dorfteile Maan, Yan und Ping und kann wunderbar auf die groesste Wind- und Regenbruecke im Lande der Dong-Voelker schauen. Man sieht hier ueberwiegend die alte Bauweise der wesentlich kleineren Haeuser gegenueber denen von Jichang.

Das Schoene an den aelteren und einfachen Wind- und Regenbruecken in Chengyang ist ihr hohes Alter gegenueber dem Musterexemplar, das 1912 errichtet worden ist. Hier auf diesen kleineren und aelteren Bruecken kann man sich die religioesen Rituale vorstellen, wenn man weiss, dass sich die Menschen schon damals zu kommunikativen Zwecken auf diesen Bruecken trafen. Ueberall sieht man diese kleinen Schreine, in dessen Naehe heutzutage meistens die aelteren Maenner sitzen und Spenden sammeln. Diese sind dringend notwendig, um diese kulturhistorischen Kostbarkeiten lange am Leben zu erhalten. Finanzielle Mittel stehen sonst kaum zur Verfuegung.

Das fuer mich interessanteste an den Bruecken ist aber die sehr kunstvolle, raffinierte  Holzkonstruktion, um das gesamte Gebaeude stabil zu halten. Lage um Lage aus grossstaemmigen Holzbalken bestehend geben sie dem Bauwerk ohne Nagelzusaetze eine bestechende Stabilitaet und Elastizitaet zugleich. So, wie auch die Wohnhaeuser unzweckmaessig erdbebensicher gebaut wurden, so stabil sind auch diese Breucken, so lange die Stuetzpfeiler irgendwie stehen.

 

Wie sollte es auch anders sein, wenn man in die Gegend sehr traditionsbewusster Orte kommt, dass nach neun Monaten nach meiner ersten Reise in diese Gegend zu den Hochzeitstagen... nun ein anderes wichtiges Fest auf aehnliche Art und Weise gefeiert wird...die Geburt des Kindes.

Wir hatten dieses Glueck, zumindest den Gaesten von Maan bis nach Pingpu zu folgen, das, wie bereits erwaehnt, ganz im Nordosten von Chengyang liegt. Lautstark und klar sichtbar fuer jeden auch ortsunkundigen wurde der Weg markiert durch Rauchschwaden der staendig entzuendeten Feuerwerkskoerper, um die boesen Geister den Weg nicht folgen zu lassen. Alles, was zum Feiern mit vielen Gaesten notwendig ist, wird von ihnen selbst herangetragen...angefangen bei Geschenken, die sehr grosszuegig fuer hiesige Verhaeltnisse sind, wie Kuehlschrank, Waschmaschine und Fernseher, weiter zu den Gebrauchsgegenstaenden...dreiteilige Holz-Sitzgarnitur, warme Kleidung, Decken, Hausschuhe, ausreichend Getraenke in ganzen Kisten, das noch lebende Abendessen und so einiges mehr noch. Wer nicht viel geben kann, kommt mit Reis und Eiern, gebraucht wird alles.